DEKAMERON BOCCACCIO

 

Der Flohmarkt. Ich meine nicht den beim Naschmarkt, wo man nascht, sondern den anderen, in Groß-Enzersdorf, im Autokino. Samstags ist er geöffnet.

 

Alte Bücher, das ist es was mich anzieht. Während die Pornohefte gut sichtbar und griffbereit auf den Tischen ausgelegt sind, stehen die Schachteln mit den Büchern auf dem Boden herum, man muss sich hinhocken um darin zu kramen. Das bedeutet, dass nach fünf Minuten die Beine taub sind und das Kreuz schmerzt. Des Menschen Wille aber ist sein Himmelreich, oder wie die Russen sagen – dein Wunsch wäre dein sicherstes Gefängnis.

 

Ich schau mir die Bücher an. Eins nach dem anderen. Wenn ein Buch in einem schlechten Zustand ist, beschmutzt und beschädigt, dann will ich es nicht, nicht einmal umsonst. Solchen Büchern sollte man ein feierliches Begräbnis veranstalten, und die Täter mit lebenslanger Verachtung strafen. Das zerlesene Buch hingegen, das ist etwas ganz anderes! Alte Bücher haben etwas Heimeliges, Anziehendes, etwas das protzig-vulgäre Polyäthylenumschläge niemals haben. Das alte Buch ist bescheiden, du spürst seine Wärme, wenn du es in die Hand nimmst. Zwischen den vergilbten Seiten verstecken sich die Schatten derjenigen, die es einmal lasen. Das alte Buch hat eine Seele, zusammengesetzt aus Seelenteilchen, die seine Leser in ihm zurückgelassen haben.

 

Ich hatte eine Cousine, die las alles, was sie in die Hände bekam. Sie mochte aber nur neue Bücher, und sie fühlte sich betrogen, wenn sie entdeckte, dass ein eben erst gekauftes Buch bereits von jemandem durchgeblättert worden war. Mit ihren Kleidern verhielt sie sich ebenso. Nie sprach sie darüber, was sie gerade las, nie teilte sie ihre Gedanken über Lektüre mit. Gelesenes landete direkt in den Vorratskammern ihres phänomenalen Gedächtnisses, wo niemals etwas verloren ging. Sie war imstande, einen Roman, den sie zehn Jahre zuvor gelesen hatte, in allen Details nachzuerzählen. Meine Cousine bewahrte die Bücher nicht auf, wozu auch, sie waren ja in ihrem Gedächtnis sicher verwahrt! Ihre Kleider trug sie auch nie lange, nach ein paar Mal verkaufte sie sie weiter, und die gelesenen Bücher verschenkte sie an ihre Freunde.

 

Ich hingegen mag keine ungelesenen Bücher. Immer wenn ich ein neues gekauft hatte, bat ich meine Cousine, es zuerst zu lesen. Der Geruch von frischer Druckerfarbe ist mir unangenehm, ich will, dass ein Buch nach einem Menschen riecht. Stellen Sie sich vor – Adam bevor Gott ihm seine Seele einhaucht, oder Galatea, von Pygmalion als Skulptur vollendet, aber noch nicht zum Leben erweckt.

 

Aus den Tiefen einer Schachtel mit alten Zeitschriften fische ich etwas in dunkelgrauem Buchbinder-Kaliko heraus - es ist das deutsch-russische Militärwörterbuch. Geboren…, pardon, erschienen 1936.

 

Der Zauber des Flohmarktes besteht auch darin, dass man hier handeln kann. Wie billig die Sache auch angeboten wird, du kannst immer versuchen, den Preis noch zu drücken. Wiener Flohmärkte unterscheiden sich von östlichen Märkten vor allem dadurch, dass Österreicher sich nicht ärgern. Sie werden nicht nervös, wenn der Käufer handeln will, sie halten sich an die Spielregeln, bleiben freundlich und lächeln. Es ist aber schwierig, die eigene Begeisterung zu verbergen - wenn du etwas heiß Ersehntes gefunden hast und dir dein Entzücken anmerken lässt, kannst du dir den Rabatt gleich abschminken.

 

Ich fördere auch noch das kleine englische Taschenwörterbuch zutage, in einem entzückenden dunkel-roten Umschlag. Brauche ich das denn? Wozu? Es ist aber so hübsch. Geritzt! Gekauft! Gleich danach finde ich ein Schulwörterbuch zu „Ilias“ und „Odyssee“, herausgegeben im Jahre 1919. Was für Illustrationen! Was für Zeichnungen! Ich zittere fast vor Begeisterung und vergesse zu handeln.

 

Es schien also der Tag der Wörterbücher zu sein, die für mich als Übersetzerin natürlich einen besonderen Reiz haben. Meine Schatzsucher-Freude ist aber noch nicht restlos befriedigt. Irgendwas fehlt mir noch.

 

Dieser Flohmarkt ist so groß wie ein Stadion, nicht so beengt wie der am Naschmarkt. Österreicher verkaufen hier ihre Trophäen zahlloser Weihnachten, Chinesen und Vietnamesen bieten Plastikfeuerzeuge, Brieftaschen, Damenunterwäsche an. Sie leben davon. Zigeuner handeln mit fast neuen Kleidungsstücken, die oft von überraschend hoher Qualität und Unversehrtheit sind, was auf die Gedanken bringt, wo haben sie diese Schätze her? Die professionellen Antiquitätenhändler kaufen am frühen Morgen den Unbedarften alles objektiv Wertvolle ab und legen Provisionen fest. Ihre Bücherbestände sind erstklassig, ihre Preise auch. Wie im hochangesehenen „Dorotheum“.

 

Und dann noch ein Fundstück. Der gedämpfte korallenfarbige Umschlag ist mit einer feinen Zeichnung verziert: Ein riesiges Bett unter dem Baldachin, das ich im ersten Moment für eine Bühne mit halboffenem Vorhang halte. Ein kleines Format, aber doch ziemlich dick, scheinbar Dutzende Male gelesen, es war konkurrenzlos in seiner Zeit.

 

 

 

Zum ersten Mal hatte ich von diesem Buch gehört, als ich zwölf war. Meine Mutter unterhielt sich darüber mit ihrer Freundin, mit leiser, verhaltener Stimme. Diese Stimme hat mich hellhörig gemacht. Der Titel des Buches schien mir seltsam - „Dekamerobokatscho“, er hat sich mir eingeprägt, die Süße der verbotenen Frucht...

 

 

 

Das Papier, war es von vornherein so zart-gelblich oder ist es auf wunderbare Weise gealtert? Hauptsache, die Stiche sind da! Sie sind voller ausdrucksvoller Details. Gleichzeitig fühlen sie sich fein und bescheiden an. Ein Buch voller wunderbarer Geheimnisse. Der Verkäufer will nicht viel für dieses Buch. Als ich aber zahle, begreift er, dass er zu wenig verlangt hat - für dieses Buch wäre ich bereit gewesen, eine beliebige Summe zu zahlen...

 

Ich drücke den neu erworbenen Schatz an meine Brust, und mir ist gar nicht bewusst, dass ich bereits zielstrebig Richtung Ausgang unterwegs bin. Nichts mehr interessiert mich, ich habe endlich gefunden wonach ich lange gesucht hatte. Eine tiefe Befriedigung und ein Gefühl angenehmer Entspannung überkommt mich. Ein zauberhaftes Gefühl, irgendwie vertraut…

 

Endlich zu Hause, blättere ich andächtig die Seiten durch... wonnevoll… Boccaccio. „Dekameron“...

(Veröffentlicht  in der Themenheft  ÖSV Literarisches Österreich  2014 Das geheime Leben von der Dinge“)