GROßE LIEBE DER HEILIGEN AFRA

 

 

Erzählung eines Ikonenmalers

 

 

Von Sophia Benedict

 

 

 

Sie sind neun[1], auf dem „Himmel mit Heiligen“ von Augsburg – vier Männer und fünf Frauen in zwei Gruppen. Dazwischen sieht man den klaren Morgenhimmel mit Symbolen des Christentums – ein Berg (Weltbau), eine Burg (die Festung des Glaubens) und ein Gotteshaus. Die Harmonie des Flusses der Linien, der lebendigen Farbenzusammensetzung haben mich sofort verzaubert, als ich dieseb Bild gesehen habe. Diese Harmonie war der Harmonie der Musik ähnlich, ihre Töne hörte ich plötzlich in meinem Herzen, und mein Herz wurde damit gereinigt und über dem Alltag meines schwierigen Lebens emporgetragen.

 

Es ist eigentlich eine Familie. Heilige Afra ist eine Zentralfigur. Die äußerste linke Männerfigur, die den Teufel niedertritt, ist heiliger Narzissus, er brachte Afra zu Christentum. Ganz rechts sitzt Afras Mutter, heilige Hilaria, zwischen ihr und ihrer Tochter sind ihre Dienerinnen – heiligen Digma, Eunomia und Eutropia. Neben heiligen Narzissus sitzt der Hilarias Bruder, heilige Dionisius, er wurde der erste Bischof Augsburgs. Zur Familie nach eigene Art gehören auch heilige Simpetrus und Udalrikus (Ulrich), sie waren zu verschiedenen Zeiten die Augsburger Bischöfe und sie haben die Kirche der Heiligen Afra nach den Einfällen der Eroberer wieder herstellten lassen.

 

Dieses Bild hat mich so sehr beeindruckt, dass ich, von Geburt an ein Waise, ein Gefühl hatte, als ob ich endlich meine Familie gefunden hätte. Bald begab ich mich nach Augsburg. Ich kam in die Kirche, die durch die farbigen Buntglasfenster mit dem Sonnenschein überflutet war, und erstarrte in tiefer Nachdenklichkeit vor dem Steinsarkophag mit den Reliquien heiligen Afra. Dann habe ich nicht sofort verstanden, wo ich mich befinde, als jemand mich an Schulter berührte. Erst jetzt sah ich, dass der Tag längst vorbei war und der der Raum versank in der dicken Dämmerung. Ein weißbärtiger Mann wischte seine Hände von der Farbe ab und lächelte mir nur mit seinen Augen an: „Verzeihen Sie bitte, ich muss schließen, kommen Sie morgen“.

 

Er schloss die Tür und wir gingen weiter zusammen und er fragte, wo ich her komme. Der Mann erwies sich als Maler und Restaurator. Kurz gesagt, an demselben Abend lud er mich in seine Werkstatt ein, bot mir ein Schlafplatz und einen Job an, er brauchte einen Gehilfe. Mit Freude habe ich zugestimmt, da ich bereits damals selbst mit der Malerei angefangen habe.

 

Es ist nicht wenig Zeit vergangen, bevor ich erzählte, was genau mich nach Augsburg gebracht hat. Der Meister hörte mir schweigend zu, dann stand er auf, schob ein paar Bretter in die Seite und kam an eine alte eiserne Truhe, die er mit seinem Schüssel öffnete, den er auf einer Kette auf dem Hals trug. Er holte daraus eine von der Zeit vergilbte Papyrusrolle.

 

„Siehe an, – sagte er – das ist ihr letzter Brief. Sie schrieb ihn in jener Nacht vor dem sie als Märtyrerin verbrannt wurde …“

 

Der Brief war in Latein geschrieben. “Si tu vales, bene est. Ego vales …“ So fingen damals gewöhnlich alle Briefe an: „Wenn du gesund bist, ist es gut. Ich bin gesund“. Und weiter:

 

 „ Mein teurer Freund, – erlaubst Du, dass ich Dich Freund nenne? Obwohl du viel mehr als ein Freund für mich bist, mehr als Vater und Mutter, mehr als das ganze irdische Leben, das ich bald verlassen werde. Ich bedauere das nicht, mein Herz ist mit großer Kraft ausgefüllt, es weint und jubelt gleichzeitig. Es beweint jenes eilende Leben, das ich früher geführt habe, und jubelt bei dem Gedanken am ewigen Leben, das mich erwartet. Ich weiß, ich muss durch einen großen Schmerz gehen, und ich hätte gelogen, wenn ich gesagt hätte, dass ich mich nicht fürchte. Ich bin ein Mensch, ich bin eine Frau und ich fürchte mich vor dem Schmerzen. Aber ich werde dadurch gehen! Mich führt meine große Liebe. Für diese Kraft und diese Liebe bin ich Dir dankbar, Du hast mir die große Wahrheit geöffnet, du hast in mein Herz die Liebe beigebracht, welche ich früher nicht kannte.

 

Nun habe ich endlich verstanden, was meinen alten Traum bedeutete, der mich für immer um meine Ruhe gebracht hat. In dem Traum sah einen Hirsch, der aus reinem Bach trank, ich stand nebenan, in einer Hand hatte ich eine brennende Kerze, und in anderen hielte ich die verschlungenen Zweige von Palmen- und Olivenbäumen. Dann hat der Hirsch hat seinen Kopf zu mir gehoben und sah mich mit menschlichen Augen an. Unter seinem Blick hat der Olivenzweig meine Stirn umschlungen. Der Hirsch sagte: „Dein Weg geht nach Augusta Vindelikum[2], dort wirst Du die Königin“. Ich erzählte meiner Mutter den Traum. Sie schwieg lange und schaute in die Ferne, dann sprach sie plötzlich mit einer fremden Stimme: „Wie ein Hirsch nach dem Wasserstopfen strebt, so auch strebt meine Seele nach Dir, mein Gott! Es wird sich die Kerze der Auferstehung entflammen. Du wirst die Palme des Sieges über den Tod erreichen und der Friedensbote krönt dich mit dem Olivenzweig …“ Dann verschwieg sie wieder und wurde wie vom Schlaf aufwacht.

 

Du weißt, mein Freund, dass mein Vater der König von Zypern war und ich hatte eine glückliche Kindheit, leider nur dauerte sie nicht lang. Mein Vater wurde im Kampf umgekommen. Zum Glück gelang es meiner Mutter mit der Hilfe ihres Bruders Dionisius, der im Kampf verwundet war, mit mir davon zu fliehen. Nach einem jahrelangen Umherwandern kamen wir endlich nach Rom. Ich wurde gerade fünfzehn und alle ringsumher sprachen davon, dass ich eine Schöne wäre. Dann entschied sich meine Mutter mich dem göttlichen Dienen zu widmen, so wurde ich eine Priesterin der Liebe im Venustempel, wo ich einen neuen Namen Afra bekam – zu Ehren der Göttin der Liebe Aphrodite. Also, ich diente der Liebe … Als ob ich wüsste, was wahre Liebe wäre?

 

Also, es vergingen knapp fünf Jahre, bevor ich jener Traum gehabt habe. Die Worte meiner Mutter, gesagt wie im Trans, haben mich erschüttert, von diesem Moment wurde ich wie von einer geheimnisvollen Kraft bewogen, sie befall mir nach Augusta Vindelikum zu gehen – zusammen mit meiner Mutter Hilaria und drei unseren Dienerinnen – Digma, Eeunomia und Eeutropia. Du kennst sie alle, sie sind heute treue Dienerinnen unseres Herren, Jesus Christus.

 

Damals gab es in der Stadt keinen Venustempel, so mieteten wir ein großes Haus, in dem wir die Götterdienste zelebrierten – zu großer Freude aller Stadtbewohnern. Du weißt doch, woraus unsere Ritualen bestanden und von welchen Handlungen sie begleitet wurden. So sind es noch vier Jahre vergangen, im Laufe denen keine Ruhe in meinem Herz war.

 

Es geschah im Morgengrauen, ich hörte das Klopfen und ging zu Tür. Es warst Du, mit deinem Freund Felixis. Ich habe sofort verstanden, dass Ihr nicht nach der fleischlichen Freude auf wart. Ihr flohen von der Verfolgung, und ich habe Euch eine Unterkunft gewährt.

 

Die Worte Deines Tischgebets haben mich tief ergriffen. Am Nachmittag setztest du fort, über Deinen Gott, über die Große Dreifaltigkeit und über die Auferstehung zu reden. Deine Worte flossen in mein Herz wie ein erhitztes Eisen – sie erwärmten und festigten es. Du sprachst über Liebe. Aber es war nicht jene Liebe, der ich diente, und die mich Jahr für Jahr immer mehr verwüstete, du sagtest zu uns: „Wie die Ibisse sind die fleischlich denkende Menschen, deren Nahrung die tödliche Früchte ihren Taten sind, von denen sie auch ihre Kinder zu ihrer Verderben ernähren“. Du gossest in mein Herz ganz andere Liebe ein – die ewige, nicht vergängliche. Diese Liebe füllte mich mit neuer Kraft aus.

 

Du tauftest uns mit heiligem Wasser und dem heiligen Geist, du hast uns, den armen Verbannten, unsere wahre Heimat zurückgegeben – den heilige Glaube an unser Gott Jesus Christus.

 

Und wir haben unser Haus geschlossen, und uns dem Gebet gewidmet. Das hat aber bei Stadtbewohner viel Wut herbeigerufen. Ich wurde gefasst und es wurde von mir gefordert, das ich auf meine echte Glaube verzichte… Doch man sagt sich von der Liebe nicht los!

 

Morgen wird mein Körper sterben, meine Seele dagegen wird ewig leben. Sie ist mit Freude und Ehrfurcht erfüllt. Ich bin Dir, mein Freund, mein Erlöser, dafür grenzenlos dankbar, Du hast mein Herz mit lebensschlafenden Kraft ausgefüllt. Leb wohl, erinnere Dich an mich. …“

 

 Nachdem ich den Brief gelesen habe, spürte ich so etwas wie einen Wirbel in meinem Inneren, ich nahm meinen Hut und ging reus. Es hat geregnet, die kalte Wassersträne kamen hinter meinen Kragen, ich konnte aber nichts spüren. Mir schien, als ob ich auf demselben Scheitern verbrannt wurde. Erst mit ersten Sonnenstrahlen kam ich zurück zur Werkstatt. Ich wurde zu einem anderen Menschen, meine Traurigkeit, die mich ewig begleitete, war weg, mein Herz wurde mit Freude erfühlt und ich fühlte in meinem ganzen Körber eine ungeheure Kraft und gleichzeitig eine himmlische Leichtigkeit.

 

An dem Morgen habe ich verstanden, dass ich mein Leben der Ikonenmalerei widmen werde.

 

 

 



[1]  Die Zahl neun hat von sich eine große symbolische Bedeutung. Vor allem ist es dreifache Triade (Dreifaltigkeit) und Symbol der Wahrheit, da es fähig ist, - multipliziert durch eine beliebige einstellige Zahl – sich zu in der Summe der einzelnen Zahlen wiederzugeben. Die Zahl neun symbolisiert Allmacht, Anfang und Ende, Harmonie, geistige Vollkommenheit und Leben. Hier erinnern wir uns an neun Kreise des Himmels und der Hölle, über neun kosmische Sphären (die Erde, sieben Planeten und der himmlische Bogen) usw.

 [2] Lateinische Name von Augsdurg