Sophia Benedict

WENN MAN ZU LANGE AUF OZEAN SCHAUT

 

ISBN: 9783738632248

 

 

 

 

 

TEIL 1
L´HOMME FATAL

Ein Tropfen Blut ist eine ganze Welt
mit einer Sonne in der Mitte ...
Das Meer ist ein Tropfen Blut,
ein winziger Teil deines Körpers.
Edvard Munch



Eifersucht


Man sagt, starke Männer lieben schwache Frauen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Pawluscha wollte anscheinend auf mich aufpassen. Er sagte, ich sei schwach und nicht
klug und lebenstüchtig genug, und würde ohne ihn zugrunde gehen. Ich stritt nicht mit ihm. Ich streite überhaupt nie, ich habe nicht das Verlangen, jemandem etwas beizubringen. Außerdem habe ich keine Überzeugungen, für die sich ein Streit lohnen würde.
Mitja[1] sagte, jeder habe Überzeugungen, aber nicht jeder verspüre das Bedürfnis, sie wie eine Fahne vor sich her zu tragen. Er meinte, dass ich aus Klugheit nie stritt. Klugheit, sagte er, sei wichtiger als Verstand, man könne sie nicht erwerben, sie sei angeboren wie die Schönheit.
Von Klugheit verstehe ich nichts, was aber die Schönheit betrifft, so irrte Mitja. Erstens ist Schönheit Geschmackssache, und zweitens kann sich sogar eine hässliche Frau schön herrichten. Zumindest sah ich das so. Ob das wichtig war? Wichtig war nur, dass ich da war und dass Pawlik da war. Mitja war auch da, und für uns alle schien die liebe Sonne.

Für alle anderen war er Pawel Semjonowitsch.
Pawluscha konnte es nicht leiden, wenn ich ihn Pawlik nannte. Der Kosename Pawluscha hingegen gefiel ihm und passte auch gut zu ihm. Ich wusste, wie zärtlich dieser Riese sein konnte. In solchen Minuten flüsterte ich ihm ins Ohr: „Mein Kapitän ...“, dann ging seine Zärtlichkeit in Leidenschaft über. Er spürte seine Kraft gerne. Ich spürte auch gerne Kraft, seine Kraft, d
ie Kraft eines Mannes, und seine Macht über mich. Ich brauche das. Erst dann bin ich glücklich.

Ich hätte gerne gewusst, ob er zu allen so war. Zu allen Frauen. Nein, das war egal! Ich bin nicht eifersüchtig. Ich glaube nicht, dass ich eifersüchtig bin. Und ich verstehe diesen Othello nicht, wieso hat er nicht einfach mit Desdemona geredet? Hätte er sie gefragt, ob sie das Tuch, das er ihr geschenkt hatte,
verlor, wäre alles anders gekommen. Stattdessen machte er ihr eine Szene – das Tuch, wo denn das Tuch sei! Als ob das wirklich ein Beweis für ihre Untreue gewesen wäre! Arme Desdemona ... Vielleicht sind Männer und Frauen auf unterschiedliche Weise eifersüchtig?

Ich lag faul in der Sonne, war sogar eingenickt und von einem leisen Geräusch wieder aufgewacht. Mitja saß an der Reling, hielt meine Angel und schaute mich an. Seine Augen waren blau wie der Himmel über dem Pazifik, sie strahlten Wärme aus. Mitja war blond und braungebrannt, er war sehr jung, jünger als ich. Er und Pawluscha sahen einander ähnlich wie Brüder, allerdings war Mitja kleiner und weniger sportlich.

Was ist los? Hypnotisierst du mich?“
Ich, nein! Ich habe einfach gesehen, dass du eingeschlafen bist und die Angel dalag. Schau, es beißt einer an!“
Der Schwimmer bewegte sich wirklich. Mitja zog abrupt die Angel zu sich. Ein silbernes Fischlein fiel auf das Deck.
„Wie lange werden wir noch hier liegen?“, fragte ich.
„Wahrscheinlich noch ein paar Stunden. Dann fahren wir in den Hafen ein. Eine Woche an Land, dann wieder fischen ... Hast du von diesem Fischen nicht schon die Nase voll, wozu brauchst du noch eine Angel?“, sagte er, schaute vor sich hin und fügte traurig hinzu, „
Du weißt, ich werde das Schiff verlassen. Ich fahre nicht mehr zur See.“
Was wirst du dann machen?“
Kunst studieren. Ich gehe zurück nach Moskau.“
Ach ja, du kommst aus Moskau, das hätte ich fast vergessen. Glaubst du, dass du an der Kunsthochschule aufgenommen wirst?“
Na sicher! Ich habe Talent.“
Ja, das weiß ich! Ich hoffe, es ist größer als deine Frechheit“, lachte ich.
Mitja schaute mich gekränkt an.
Wenn du mir nicht glaubst, schau selber.“ Er reichte mir sein Album, das er immer griffbereit hatte.
Auf der Zeichnung sah ich mich auf dem Deck liegen, die Wolken liebkosten mich. Ein Bild der Glückseligkeit. Ich fing an im Album zu blättern. Auf jedem Blatt war ich. Das war schmeichelhaft, aber auch irgendwie unheimlich.
Warum machst du das, Mitja?“
Du weißt selbst, warum“, sagte er leise und schaute auf die Bucht, wo sich auf den Hügeln die Stadt ausbreitete.

Vor einem Jahr hatte Pawluscha mich nach Wladiwostok mitgenommen. Die Stadt selbst bekam ich aber kaum zu Gesicht. Er nahm mich immer mit auf seine Seefahrten – und er trug mich sogar als Hilfskraft des Schiffskochs ein. Die Küche, pardon, die Kombüse, betrat ich aber nie, dort machten alles seine Burschen. Sie mochten mich. Sie waren auch von meinem Alter gerührt, sie sagten, ich sei zu jung und zu dünn, um die Kessel zu schleppen. Anscheinend verwöhnten sie mich auch recht gern. Oder wollten sie ihrem Kapitän imponieren? Mit seinen Matrosen war er gar nicht zimperlich, trotzdem mochten sie ihn. Obwohl sie ihn auch fürchteten. Er verteidigte ihre Löhne, war aber ansonsten ein richtiger Despot. Wie ein Vater, der beschützte und bestrafte. Sie verziehen ihm alles. Wie Kinder ihrem Vater. Obwohl er noch recht jung war.


Mitja schwieg weiter. Ich blätterte das Album durch. Plötzlich spürte ich einen Schatten auf mich zukommen.

Was hast du da?“, fragte Pawluscha und streckte seine Hand nach dem Album aus.
Ich sprang auf und verbarg das Album hinter meinem Rücken.
Zeig her!“, befahl Pawluscha.
Ich hielt das Album fest und zeigte ihm eine Zeichnung. Sein Mundwinkel verzog sich nervös nach oben.
Ist das vielleicht von dir?“, fragte er Mitja und riss mir das Album aus der Hand.
Er war wütend, vor diesen Augenblicken fürchtete sogar ich mich.
Es gehört mir“, sagte Mitja ruhig und stand auf. Er hatte anscheinend keine Angst.
Na, du Ajwasowskij, kannst du auch etwas anderes zeichnen als die Frauen anderer Männer?“
Ich bin kein Ajwasowskij, ich bin Repin[2]“, parierte Mitja ruhig.
Pawluscha hob seine Hand und wollte das Album über Bord werfen, aber ich riss es ihm aus der Hand. Gerade noch rechtzeitig! Sonst hätten die Fische meine Porträts bewundert, aber die verstanden von Kunst noch weniger als Pawluscha.
Wir sind nicht verheiratet“, zischte ich und drückte das Album mit beiden Händen an meine Brust.
Sei still!“, befahl Pawluscha so gutmütig als sei ich ein Kind.
Er ärgerte sich fast nie über mich, er nahm mich einfach nicht ernst, wenn er mit mir sprach, verschwand die Bosheit aus seiner Stimme.
Er wandte sich wieder an Mitja:

Ajwasowskij, du hast schon verstanden, was ich gesagt habe. Zeichne das Meer oder hör überhaupt auf, etwas auf das Papier zu schmieren.“
Ja gut, mein Kapitän, ärgere dich nicht, ich bin eben einfach so“, sagte Mitja in demselben ruhigen Ton, „es gibt keine anderen Frauen auf dem Schiff, also zeichne ich sie ...“
Mitjas Antwort gefiel Pawluscha nicht, er trat auf ihn zu, packte ihn leicht und warf ihn über Bord.
Hast du den Verstand verloren?“, schrie ich und trommelte mit meinen Fäusten auf Pawluschas Brust. „Er wird sterben! Du weißt, am dritten Tag kommt das Grundwasser nach oben!“
Das bedeutet, dass das Wasser sehr kalt ist, man kann nur wenige Minuten darin überleben. Pawluscha lächelte nur, er versuchte nicht einmal mir auszuweichen, dann packte ich ihn an den Haaren. Er nahm meine beiden Hände in eine seiner riesigen Pranken, packte mich am Arm und zog mich die Treppe nach unten. Währenddessen hörte ich einen lauten Schrei: „Mann über Bord!“
Pawluscha trug mich in die Kabine und ließ mich auf das breite Kapitänsbett fallen, dann ging er hinaus und schloss die Tür ab. Ich warf mich dagegen, verstand aber bald, dass es sinnlos war. Ich war gefangen.

Ich legte mich auf das Bett und weinte.

Es reichte! Ich hatte dieses Schiff satt! Ich hatte dieses Meer satt! Ich hatte es satt, monatelang dieselben Menschen vor Augen zu haben, und schließlich hatte ich das Faulenzen satt! Ich wollte nicht, dass man mich wie ein dummes Kind behandelte!

Ehrlich gesagt, zunächst hatte es mir ja gefallen, von Pawluscha beschützt zu werden, aber das war zu viel! Er dachte, wenn er sich um mich sorgte, musste ich alles machen, was er sagte. Ohne ihn konnte ich gar nichts unternehmen, nicht einmal einkaufen gehen. Er kaufte mir alles. In einer Hafenstadt kann man auch alles kaufen. Geld spielte für ihn keine Rolle. Aber wann sollte ich meine wunderschönen Kleider tragen? Sie blieben im Schrank hängen. Ich wollte diese Kleider nicht!
Ich lauschte und bekam mit, dass Mitja wieder an Bord war, seine Stimme zu hören wirkte beruhigend. Das Album behielt ich, es hatte ein wenig gelitten, aber wenn ich es unter die Matratze legte, würde es wieder glatt werden.
Ich war schön auf Mitjas Zeichnungen. Ich weiß nicht, ob ich etwas von Kunst oder von Schönheit verstehe, aber auf seinen Zeichnungen gefiel ich mir. Besonders auf der mit dem riesigen Apfel in der Hand ...


Der Majestätische



Bevor ich erzähle, wie ich Pawluscha kennenlernte, muss ich doch erzählen, was davor passiert war.
Meine Tante brachte mich in die Stadt, aus der ich dann nie mehr wegzog. Meine Freundinnen fuhren in den Ferien mit ihren Eltern ans Meer oder anderswo hin, ich aber besuchte nur meine Großeltern auf dem Land.
Ich kam gut durch die Schule. „Was willst du weiter machen?“, fragte meine Tante, fragten meine Freunde. Warum muss man unbedingt etwas machen, dachte ich mir. Reichte es denn nicht, einfach zu leben?! Aber man musste etwas machen. Also inskribierte ich an der Uni Philologie. Daneben suchte ich mir einen Job. Ich wollte meinen Pflegeeltern nicht noch weiter zur Last fallen. Sie behandelten mich zwar gut, aber ich konnte nie vergessen, dass sie nicht meine richtigen Eltern waren. Ich wollte ihre Güte nicht ausnutzen.
So quälte ich mich ein halbes Jahr in einem verstaubten Büro, bevor sich ein Job in einem Zeitungskiosk fand. Das war echtes Glück! Noch dazu war der Kiosk in der Nähe der Uni, vor allem aber – es war kein Chef da! Obwohl ich nie mit jemandem streite, ertrage ich es nicht, ständig kontrolliert zu werden. Noch dazu gab es hier ringsherum viel Licht, viel Luft, viele Menschen, viele Gesichter, also mit einem Wort, das war echtes Leben! Wie ein unendlicher Feiertag! Unaufhörlich plauderte ich mit den Kunden – über das Wetter, über die UFOs, die damals in Mode waren, über neue Filme und über verschiedene andere Sachen. Mir gefielen diese unverbindlichen Plaudereien. Es zeigte sich, dass ich anderen Menschen ganz leicht den Kauf völlig unnötiger Dinge einreden konnte, besonders wenn es Männer waren.

Er kam zum Kiosk. Fragte nach ein paar Zeitungen, legte das Geld auf den Ladentisch, erst dann blickte er zu mir hoch. Für einen Moment war er wie erstarrt, als ob er etwas Besonderes gesehen hätte. Dann nahm er das Wechselgeld und ging. Ein paar Minuten später kam er zurück und kaufte noch einige Zeitungen.

Er sah nicht so aus, als ob er die Zeit hätte, sie alle zu lesen. Davon zeugte sein Aussehen – von seinem sicheren Blick bis zum teuren Anzug und dem äußerst gepflegten Äußeren. Er hatte dunkle Augen und schwarzes gelocktes Haar. Seine Haut war schön gebräunt. Das schönste an ihm aber war sein beeindruckendes Profil mit der Adlernase. Ich schätzte sein Alter so gegen vierzig. Er strahlte das Selbstbewusstsein eines reifen Mannes aus.
Der Fremde schaute mich wieder an, sein Blick ließ mein Herz schneller schlagen. In meinem Bauch flatterte plötzlich ein ganzer Schwarm Schmetterlinge. Es war ein ganz neues, ein mir bis dahin unbekanntes Gefühl.
Meine Arbeit bringt es mit sich, dass ich viel lese“, sagte der Mann, als habe er meine Frage gehört.
Ich fragte nicht, was er für eine Arbeit  habe.
Als er wegging, spürte ich etwas wie Trauer, als hätte mich jemand verlassen, der mir bereits  sehr teuer war.
Am nächsten Tag stand er wieder vor dem Kiosk.
Wassilij Alexandrowitsch Steblow“, stellte er sich vor und fügte hinzu: „Für Sie einfach Wassia.“
Farida“, sagte ich.
Übersetzt aus dem Tatarischen, wenn ich nicht irre, … 'die Einzige?'“
Sie irren nicht“, lächelte ich, geschmeichelt von seinen Kenntnissen meiner Muttersprache.

Am selben Abend trafen wir uns im Park.

Später sagte er, meine Unbefangenheit habe sein Herz erobert. Er meinte auch, dass er von meinem tatarischen Namen überrascht gewesen sei, weil ich nicht unbedingt tatarisch aussah. Ich sei auf eine internationale europäische Art schön. Ja, das sagte er, also meinte er, ich sei schön.
Ich weiß nicht, was Wassilij unter internationaler europäischer Schönheit verstand, aber die Wolgatataren sind nicht immer einfach von Russen zu unterscheiden, unser Blut hat sich wahrscheinlich im Laufe der Jahrhunderte häufig vermischt. Wenn ein Mann um ein Mädchen wirbt, sagt er immer, dass es schön ist. Ich habe hellbraunes Haar, meine Augen sind auch hellbraun, meine Nase ist nicht groß und nicht klein, meine Haut eigentlich hell und das Gesicht schmal. Müsste ich einen Fragebogen ausfüllen, würde ich bei „besonderen Merkmalen“ einen Strich machen. Ich habe nichts Besonderes an mir. Ich glaube auch nicht, dass ich besonders hübsch bin, aber hässlich bin ich auch nicht.

Wassilij Alexandrowitschs Beruf war wirklich ungewöhnlich. Er war ein bekannter Kameramann bei Film und Fernsehen. Ein besonderer Beruf macht in den Augen einer Frau aus einem Mann etwas Besonderes.

Er wollte nicht, dass ich ihn Wassilij Alexandrowitsch nannte, ich konnte aber nicht Wassia zu ihm sagen. In der Übersetzung aus dem Griechischen bedeutet Wassilij – der Majestätische. Im russischen Alltag heißen jedoch die Figuren aus den Säuferanekdoten Wassia ... Ein solcher Name passte weder zu seinem Alter noch zu seinem Äußeren, seinen Manieren oder seinem Beruf. Ich entschied mich für seinen vollen Namen – Wassilij.

Der Frühlingstag war zart und warm, die Wolga spiegelte den blauen Himmel, das Laub auf den Bäumen war hellgrün-gelblich abschattiert, alles glänzte und wurde von zärtlichen Sonnenstrahlen in Gold gehüllt. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu, bald würden Rot und Gelb in den Himmel und ins Wasser kommen. Also, die Welt war schön.

Es war Liebe. Liebe auf den ersten Blick.
Ob ich früher schon verliebt gewesen war? Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich mich in einen bekannten Filmstar verliebt. Später gefiel mir ein Junge aus der zehnten Klasse, ich war aber in der sechsten, also bemerkte er mich gar nicht. All das waren unklare Kindergefühle, sie quälten mich, ich verstand nicht, woher sie kamen und was sie bedeuteten.
Dieses neue Gefühl war anders, es verdrehte mir den Kopf, es überflutete mich wie eine Welle einen ermüdenden Schwimmer überschwemmt. Mir kam vor, dieses Gefühl hätte ich schon immer gehabt, es sei aber erst jetzt an die Oberfläche geschwappt. Es lebte in meiner Brust und im ganzen Körper, im Kopf, in den Beinen, im Bauch ... Besonders im Bauch, im Unterleib. Dort war es am schlimmsten. Es kroch nach oben zum Sonnengeflecht, dann schien es, als flattere ein winziger Vogel oder ein Schmetterling und schlage gegen die Wände seines engen Käfigs. Wassilij war hier, er war lebendig, ich fühlte die Wärme, die von seinem Körper ausging, ich roch den Geruch seiner Haut, ich hörte seine Stimme. Es kostete mich viel Kraft, mich nicht in seine Umarmung zu stürzen und für immer in ihrem Abgrund zu versinken.
Stattdessen gingen wir, wie es sich gehört, nebeneinander her, und er erzählte mir von seiner Arbeit. Ab und zu nahm er aus seiner Tasche ein Schokoladebonbon und steckte es mir zu. Er fütterte mich, als sei ich ein herrenloser Hund...
„Morgen muss ich für einige Tage zu Dreharbeiten verreisen“, sagte er, bevor wir uns verabschiedeten, „also sehen wir uns in vier Tagen wieder?“
Seine Frage klang wie ein Befehl. Ich nickte.

In jener Nacht träumte ich verworrene Träume, ich wachte auf, erinnerte mich an ihn, und mein Herz stand für einen kurzen Moment still. Ein beängstigendes und süßes Gefühl.
Die drei Tage zogen sich qualvoll, die Freude wurde zum Zweifel, und der Zweifel machte der Hoffnung Platz. Ich wartete auf ein neues Treffen, bereitete mich aber darauf vor, dass niemand auf mich warten würde.
Dann sah ich seine vertraute Gestalt. Wassilij hatte mir ein Sträußlein Maiglöckchen mitgebracht. Seine Lippen berührten ganz leicht meine Lippen. Noch heute erweckt der bittere Maiglöckchenduft in mir das grenzenlose Glücksgefühl, das ich damals empfand.  Wir machten einen Spaziergang an der Wolga, dann setzten wir uns auf eine Bank. Vor unseren Augen lag der Fluss in seiner unendlichen Weite, darüber die ganze Bläue des Horizonts. Sinkende Sonne – die talentierte Malerin - ergänzte das Bild mit zartrosa Pinselstrichen. Die Natur tat das Ihre. Die Feinheit der Farben rund um uns und die Feinheit des warmen Windes verschmolzen mit jener Feinheit, die in uns war.
Wassilij sprach mich weder mit Sie noch mit Du an, er sprach mit mir in der dritten Person.
„Wenn Faridchen mich liebgewinnen wird, werde ich der glücklichste Mensch auf der Welt sein.“
„Sie mag Sie schon jetzt“, antwortete ich so leise, dass ich mich selbst kaum hörte.
In den rötlichen Strahlen der untergehenden Sonne ähnelte sein Profil dem eines römischen Eroberers auf einer alten Münze. Vorsichtig fasste er mein Kinn und schaute mir lange in die Augen:
„Wenn Faridchen mir einen Sohn gebiert, werde ich der glücklichste Mensch auf der Erde sein.“
„Und wenn es ein Töchterchen wird?“, flüsterte ich verlegen und glaubte selber nicht, dass ich das sagte.
„Ich werde auch ein Töchterchen sehr gern haben.“

Alles war wie im Märchen. Erst später fiel mir ein, dass mich eine derart seltsame Liebeserklärung hätte hellhörig machen müssen. In mir aber lebte der naive Glaube, dass mir ein gütiger Gott meine bitteren Verluste großzügig entgelten, dass er mich für meine Leiden mit einer großen Liebe belohnen würde. Wenn ich auch durch die Art dieser Liebeserklärung und durch seine Eile etwas verwirrt war, sah ich darin nichts Merkwürdiges. Wer sagt, dass sich Träume nicht erfüllen?
Als mir all die furchtbaren Dinge passiert waren, war ich noch ein Kind gewesen. Das bedeutete, ich hatte noch keine Sünden begangen, das hieß, ich hatte auch keine Strafe verdient. Also war das eine große Probe, die ich geduldig bestanden hatte. Jetzt kam endlich die Zeit der großen Belohnung! Wenn das nicht geschähe, hätte es ja bedeutet, dass die Welt grausam war und dass es keine Gerechtigkeit gab! So etwas durfte aber einfach nicht sein. Die Welt war wunderbar, das bewies allein schon ihre Schönheit. Und wir erfreuten uns daran wie himmlische Wesen.

Ich fürchtete, mein neues Glück zu verschrecken, es kam mir so brüchig vor, es forderte von mir etwas ganz Bestimmtes, aber ich wusste nicht, was. Klar war mir nur eines: Sollte ich Wassilijs Erwartungen nicht erfüllen, würde alles einstürzen, und ich würde wieder alleine in dieser riesigen, weiten Welt sein...
„Willst du mit mir zu Dreharbeiten in die Taiga fahren?“, fragte Wassilij.
„Was mache ich dort?“, hielt ich verwirrt entgegen.
„Machen werde ich, du wirst dich einfach erholen.“
„Es ist aber doch eine Dienstreise ...“
„Ich nehme dich als meine sehr persönliche Assistentin mit“, lächelte Wassilij und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Wir werden in einem Zelt schlafen.“
„Wir ... in einem ...“
„Die Burschen in meinem Team sind wunderbar, sie werden uns verstehen.“
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.

Den Dampfer hatten wir um vier Uhr morgens bestiegen, einige Stunden lang fuhren wir auf der Wolga, dann stiegen wir in LKWs um. Die Straße war dermaßen schlecht, dass es ein Wunder war, dass wir unterwegs nicht unsere Zähne verloren. Ich freute mich, als wir zu Fuß weitergingen. Gegen Abend hatten wir endlich unser Camp am Ufer des kleinen Baches eingerichtet.  Hier in der Nähe sollten morgen die Aufnahmen gemacht werden. Drehort waren der Wald und der Bach, in dem Forellen und Krebse lebten. Der Film war dokumentarisch – über die Flora und Fauna dieser Region, so etwas wie „Die Welt der Pflanzen“ oder „Die Welt der Tiere“. Wassilij galt auf diesem Gebiet als großer Spezialist, er besaß eine diabolische Geduld und konnte stundenlang auf Beute warten.
Die Mannschaft bestand aus dem Regisseur, zwei Assistenten und einem Jäger, der den Wald gut kannte. Ohne ihn hätten wir uns sicher verirrt. Den Regisseur nannten alle Kescha, ich konnte aber eine derartige Vertraulichkeit nicht verstehen und sprach ihn daher mit Innokentij Iwanowitsch an. Einer der Assistenten war blond, jung, nicht groß und sehr beweglich, er hatte ein reizendes Lächeln, man nannte ihn Sanja
[3]. Der andere war Ilias, schlank und groß, mit einem blassen Gesicht und traurigen grauen Augen. Er schien nicht stark zu sein, übernahm aber die schwerste und verantwortungsvollste Arbeit.

Die Männer stellten die Zelte auf, und ich ging in den Wald, um Holz für das Feuer zu sammeln. Die Sonne vergoldete die Wipfel der Kiefern, ihre Stämme strahlten im rosafarbenen Licht. Etwas bewegte mich, einen warmen Stamm zu umarmen. Ich drückte meine Wange an ihn. Irgendwo oben über meinem Kopf hörte ich ein Geräusch. Ein Eichhörnchen sprang von einem Ast zum anderen. Der Luftzug seines Sprungs traf meine Wange. Das kleine Tier setzte sich mir gegenüber hin und beobachtete mich wie verzaubert mit seinen winzigen Augen. Ich hatte Angst, mich zu bewegen, um das Tierchen nicht zu erschrecken.
Leise kam Wassilij. In seinem Beruf ist es wichtig, dass er lautlos durch den Wald gehen kann. Er umarmte mich von hinten und drückte seinen ganzen Körper an mich. Seine Hände waren heiß, ein Schauer lief durch seinen Körper, er drückte sich an mich mit dem ganzen Körper, sein Atem war feucht und stoßartig.
„Du hast gesagt, du willst mitkommen, das heißt, du bist einverstanden ...“
Ich drückte mich nur noch fester an seinen Körper.
Ich hatte Angst. Und ich war glücklich. Mich durchflutete ein unbekanntes Gefühl. Erst später verstand ich, dass das eine Empfindung der Macht war. Der Macht einer schwachen Frau über einen starken Mann, jener flüchtigen Macht, die ihr seine Liebe und sein Verlangen geben. Ich spürte auch seine Macht. Diese Einigkeit, dieses Vertrauen ist das größte Glück, das ist Liebe.
Wassilij hatte seinen Kopf zu mir geneigt, sein Atem benetzte meinen Hals, über meine Haut lief ein leichter Schauer. Er küsste meinen Nacken und die Grübchen hinter den Ohren. Ich drehte mich um, unsere Lippen trafen sich. Seine Liebkosungen wurden immer beharrlicher, er beeilte sich aber nicht. In mir spannte sich alles, seine Berührungen weckten in mir eine Leidenschaft, die ich nie gekannt hatte. Ein unbekannter Orkan, ein Tornado wütete in mir und brachte mich in seine Gewalt.
„Bist du sicher, dass du mir gehören willst?“, flüsterte er, wobei seine Stimme zitterte.
„Spürst du denn nicht, dass ich es will“, wollte ich schreien, aber meiner Kehle entwand sich nur ein Stöhnen, das nicht menschlich klang. In solchen Momenten werden Worte zum Feind...
Ich war eine Priesterin auf dem Altar der Liebe, es war ein heiliger Ritus, ich brannte im Feuer der Liebe, meine Seele flog himmelwärts ... Mein Rücken spürte den warmen Stamm der Kiefer, ich wurde eins mit dem Stamm und mit der ganzen Natur, ich wurde Teil dieser Natur, in der alles einen tieferen Sinn hat. Der Schmerz war stark, aber ganz kurz, er stand an der Schwelle zu einer alles überflutenden Glückseligkeit. Mir öffnete sich das Tor zum Paradies...

Wassilij stemmte sich mit den Händen vom Stamm ab, seine Stirn berührte meine Stirn. Der Duft seines Schweißes vermischte sich mit dem Duft des Frühlingswaldes, es war der Duft der Liebe...
Als wir – nackt – zum Bach hinunterstiegen, fragte Wassilij nachdenklich:
„Warum hast du nicht gesagt, dass du Jungfrau warst?“
„Warst“, lächelte ich, „hast du das denn bezweifelt?“
Wassilij schwieg nachdenklich.
„Liebster, bist du nicht froh, dass du der erste ... und einzige bist? Wir gehören jetzt für immer zusammen.“
Er gab keine Antwort.
Wir stiegen in den Bach, das Wasser war eiskalt, ich kreischte und sprang heraus. Wassilij fauchte lachend und bespritzte mich mit einer Handvoll Wasser.

Als wir zurückkehrten, waren die Zelte schon fertig, die ganze Gesellschaft saß am Feuer. Das Holz, das ich gesammelt hatte, war am Bach liegen geblieben. Unserem Erscheinen begegnete man ruhig, niemand machte einen Witz oder Andeutungen. Man goss uns Wodka in die Aluminiumbecher und gab jedem ein Stück Brot. Ich kippte meinen Wodka in Wassilijs Becher.
„Ich hole mir Wasser vom Bach“, sagte ich.

Ich hockte mich hin und tauchte meine Hand ins Wasser. Das klare Nass kühlte meine Haut. War es wirklich passiert? Und was war eigentlich passiert? Früher oder später passiert das jedem Mädchen...
Die Jungfräulichkeit ... Meine Tante hatte versucht, mit mir über dieses Thema zu reden, sie tastete sich vorsichtig heran, sie wollte mich warnen. Ich nickte dankbar. Konnte ich meiner Tante sagen, dass ich fest entschlossen war, nicht zuzulassen, dass meine Jungfräulichkeit zur Ware wurde? Niemand sollte mich verkaufen, wie meine Mutter verkauft worden war. Wir sahen, was daraus wurde. Wollten sie wirklich, dass auch mein Schicksal so traurig endete, dass ich den einen liebte und einen anderen heiraten musste?! Dieses wunderbare Geschenk bekam der, den ich liebte. Er liebte mich auch. Jetzt waren wir miteinander verbunden. Zeugen unseres Bündnisses waren der Wald, die Wolken und der Himmel.
Ich hatte Wasser geschöpft und kehrte zurück zum Feuer.

Wassilij saß nachdenklich, der rötliche Widerschein des Feuers tanzte auf seiner gebräunten Haut. Mein Herz brannte süß. Zitternd am ganzen Körper drückte ich mich an den Geliebten. Mein Legionär hatte mich erobert, ich war seine Trophäe.
Die Männer wurden schnell satt, danach besprachen





[1]Mitja – Koseform von Dmitrij. Für russische Vornamen existiert eine Vielzahl davon. So wird Mitja etwa auch Mitjenjka genannt, Pawel Pawluscha, Wadim Wadik oder Wassilij Wassia. Eine formelle Anrede beinhaltet im Russischen den Vor- und den Vatersnamen. Wenn jemand Wassilij Alexandrowitsch heißt, bedeutet das, dass Wassilij, der Sohn des Alexandr ist.

[2]Ajwasowskij, Iwan Konstantinowitsch (1817  – 1900),  ein berühmter russischer Marinemaler. Repin, Ilja Jefimowitsch (1844   1930), ein  berühmter russischer Porträtmaler.

[3]Sanja, Sanjka – Koseform für Aleksandr.